Heiner H . Hoier / works

Selected Writings

ein spätprogramm
de sade
um mitternacht

Warum hat es nicht wenigstens einer gesagt ?

 

FORM, meine Herren (Damen waren natürlich nicht anwesend!) wäre für diesen Outlaw der Sittlichkeit das Schlüsselwort gewesen. FORM als vegetativ mutierender EXCESS! 

 

Stattdessen kitzelte das "literarische Mysterium”, weil so schön verworfen, die noch immer regressiv-anrüchige Intimität. Eine solche, wenn überhaupt, bildet sich in einem ganz anderen Sinne ab, nämlich in dem Umstand , dass sich hier einer - buchstäblich - der Entgrenzung, der Radikalisierung menschlicher Imagination verschrieben (!) hat ; einer, der die Vorstellungskraft von ihren Fesseln befreite...

 

Was aber fasziniert uns Heutige an unserer expertisierten Altherren-Fernsehrunde? Die ist noch immer dabei, fachverkrampft das Narrativ zu suchen , sie dreht auch deshalb sich im Kreise; bleibt in den leiblich-materiellen Sujets genüsslich stecken, um sich unfreiwillig als die kultivierten Pornographen zu outen, die der Autor aus ihnen gemacht zu haben scheint und verstehen - was sonst ? – das Falsche. Wie auch, wenn sie dort nur suchen wo es nichts zu finden gibt?

 

Das Ungeheuerliche de Sadscher Abstraktion indess ist nicht das endlos wechselnde, aber dennoch immer gleiche exkrementöse Set seiner maltretierten Figurinen, sondern die in seinem Blick sich vorwegnehmende Totalität modernen Denkens. Der abenteuerliche Versuch ( in Form eines Handlungsmusters, dass sich in der geheimen Verneinung der Vernunft, von der Theorie zur Praxis schlich...) an dem sich exemplarisch der Vorschein des Künftigen, die Vorwegnahme des geistigen Ausgreifvermögens menschlicher Unersättlichkeit zeigte. Jene virile Triebenergie, die die Prospektion wie die Negation des Gehirns, zu einem sich scheinbar widersprechenden Leistungsziel zusammenschliessen konnte. Und damit etwas auslotete, was der modern aufkeimende Intellekt des 18.Jahrhunderts langsam zu ahnen begann: die auf die entropische Phantasie angewiesene Zweischneidigkeit der Vernunft, die zugunsten ihrer eigenen bizarren Machtansprüche niemals auf jene hat verzichten können. (Hier, in der bedrohlich-intriganten Dialektik der Form, entdeckt Kunst nicht viel später den Keim des „Wahren“ - s. Adorno.) 

 

De Sade hat im Grunde , nur scheinbar naturalistisch, das versucht, was dann die individualisierten, bildenden Künste getan haben: den sensualistischen Expressions- und Wahrnehmungskosmos bis zur Neige auszuschöpfen, ihm jede Kausalität auszutreiben und damit vorwegzunehmen, was sich dann auf allen Gebieten wissenschaftlich geistiger Prosperität als Grenzüberschreitung – oft epistemisch skrupellos gerechtfertigt – etablieren sollte. So hat der menschliche Geist seine Denkarbeit bis zu den nackten Tatsachen und darüber hinaus vorangetrieben. 

 

Nicht aber der endlos literarisch-variable Gegenstand ist hier das Objekt der Begierde, sondern stets das Denken selbst. Es begreift sich bereits als ein immanentes, in der Form seiner Begehrlichkeit zu sich selbst gekommenes Gegenstandssubjekt, das es als solches bis zur Neige zu erproben galt. Bei de Sade zeigt sich beispielhaft die Grenze (und damit der späteren Sprachphilosophie Wittgensteins nicht unverwandt), die ihre Ausdehnung durch Selbstbeschreibung bis zum Zerreissen getrieben hat. Obszön daran ist nichts, wenn es nicht bildhaft säkularisierter, kognitiver Grössenwahn ist. Das Zerstören etablierter Denk- und Empfindungspfade muss als Substitution verstanden werden. Zwar auch als Angriff auf die von Herrschaftsinteressen korrumpierte Moral und Opportunität des 18.Jahrhunderts ; mehr noch aber als Herausforderung der verdrängten Angst vor der Unberechenbarkeit eigener Vorstellungskraft; der Entkopplung ihres öffentlich-sittlichen Zaumzeugs. Nur das Durchdringen der bis dato linear narkotisierten Synapsen , ihre auf ungeheuerliche Art neu verknüpften Affizierungen schufen jene Präpositionen , die die verbotenen, "unschuldigen” Bilder, wie durch ein geöffnetes Schleusentor endlich in das Bewusstsein fluten liess. Nur durch einen solchen Eingriff in die ästhetische Tiefenstruktur des menschlichen Imagos konnte jenes Universum ausgelotet werden, dass dem zivilisatorischen Schrecken, den Schrecken seines eigenen Ursprungs zeigte. Der Entwurf des Menschen durch den Menschen war freilich ab sofort in seinen spirituellen Grundfesten in Frage gestellt. (Vielleicht die gewaltsame Vorwegnahme der ontisch -nitzscheanischen Einsicht "Gott ist tot!”).
De Sade, fürwahr ein prophetisches Projekt der Moderne!

 

Als aktuell kann dieser Mann auch deshalb gelten, weil wir in der rücksichtslosen Fetischisierung des Extensionsprinzips (z.B. unserer zerebralen Natur), die er als einer der Ersten ästhetisch erprobte, die technologisierte Allmacht widererkennen. Eine Macht, die in ihrem penetrierenden Bewältigungszwang alltäglich geworden ist. Die Umwandlung dieser Mentalität von ihrer geistigen Form in die materiell-konzeptionelle; das ist es : Die Verdinglichung der apotheotischen Vorstellungskraft, ihre dreidimensionale Vollstreckung in Raum und Zeit. Hier schliesst sich die Trias (Form, Raum, Zeit) in ihrer kybernetisch möglich gewordenen Synchronisierung von Denk- und Handlungsmuster.

 

De Sade ist deshalb einer der relevantesten Philosophen der digitalen Moderne, weil er an einem geeigneten Gegenstand (die triebgesteuerte Imaginierung des Geistes durch sich selbst) die Hemmungslosigkeit der Einbildungskraft, die der intriganten Logik unseres Denkens vorauseilt, auf den Punkt gebracht hat. Er lieferte Aufschlüsse über den dunklen Wahn, der das geistige Vorstellungsbild bis an seine Grenzen und darüber hinaus treiben will. Bewegt durch eine Energie, die in der formfordernden Leere des menschlichen Vorstellungszwangs ihre Quellen hat. (Schnitzler`s Traumnovelle und Kubrick`s „eyes wide shut“ haben dafür eindringlich Sprache und Bild gefunden). Hier formuliert sich der Satz vom Grunde, seine hermeneutische Selbsterschaffung durch den Zugriff auf unsere libidinös-mechanistischen Sinne : Die Welt als Wille und Vorstellung. Ich denke, also bin ich. Ich bin, also denke ich. Wille und Vorstellung, Raum und Hunger, Pleonexie und Form.

WAS dagegen ist ein Gewissen?

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